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Foto von Anna Nekrashevich
Um eine Betrachtung des Vorfalls kommen wir wohl hier bei Todayยดs Day nicht herum. Zunรคchst aber: Wer wie ich in den Siebziger und Achtziger Jahren zur Schule gegangen ist, dem wurde schon sehr frรผh und eindeutig ein Einblick in die jรผngere Geschichte dieses Landes gewรคhrt. Getragen von der Idee, dass die furchtbaren Verbrechen des NS-Regimes sich niemals wiederholen dรผrfen und man dieses Ziel vor allem dadurch erreicht, indem man bereits junge Menschen in der Schule darรผber aufklรคrte, was zwischen 1933 und 1945 hier geschah. Die Ideologie des Nationalsozialismus, wie er zur Macht kam, die Aufhebung der Demokratie, die Manipulation der Jugend, die Ausgrenzung und Vernichtung derer, die unerwรผnscht waren. Und auch der Krieg, der weitere Millionen von Opfern forderte. Das sind nur einige Aspekte dieses wichtigen Themas, die in meinem Geschichtsunterricht ausfรผhrlich behandelt wurden. Und das war gut und richtig, damals wie heute.
Letzte Woche. In den Schlagzeilen ein 35 Jahre altes Flugblatt, antisemitisch. Unertrรคglich. Ich erspare Ihnen und mir die Wiedergabe des Inhalts. Ein solches Dokument hรคtte nie verfasst oder gar jemals verteilt werden dรผrfen. Genau das aber geschah im Schuljahr 1987/1988 an einem niederbayerischen Gymnasium. Verantwortlich nach ersten Berichten der Sรผddeutschen Zeitung: der stellvertretende bayerische Ministerprรคsident und Wirtschaftsminister des Freistaates, Hubert Aiwanger.
Dieser bestritt, Verfasser des Schriftstรผcks gewesen zu sein. Allerdings hatte man wohl seinerzeit einige Exemplare desselben in seiner Schultasche gefunden und den damaligen Schรผler zur Rede gestellt. Die Schulleitung forderte ein Referat vom ihm ein. Weitere Konsequenzen bleiben aus. Aiwanger bezeichnete das Papier als ekelhaft und menschen-verachtend. Der ihm bekannte Autor werde sich selbst erklรคren. Es sei weder heute noch damals seine Art, andere Menschen zu verpfeifen.
Einen Tag spรคter schlieรlich eilte sein ein Jahr รคlterer Bruder Aiwanger zur Hilfe. Er habe das Pamphlet verfasst, distanziere sich von dem unsรคglichen Inhalt und bedauere sehr die Folgen seines Tuns. Wut รผber sein Durchfallen in der Schule sei der Motivator gewesen, der zur Entstehung des Dokuments gefรผhrt habe. Und schlieรlich: Es sei damals noch minderjรคhrig gewesen.
Der letzte Satz in der Erklรคrung von Aiwangers Bruder, er macht nichts besser. Die Erlรคuterung zur Genese des antisemitischen und die Opfer der Schoa verhรถhnenden Inhalte des Papiers lassen sich kaum durch Wut auf das eigene schulische Versagen erklรคren. Worte, die nicht heilen.
Der Stand der Dinge am spรคten Montagnachmittag: Wie die Sache nun ausgeht, das ist ungewiss. Der bayerischer Ministerprรคsident Sรถder hat fรผr morgen den Koalitionsausschuss zu einer Sondersitzung einberufen. Die Oppositionsparteien im Parlament des Freistaates erwarten von Sรถder eine Stellungnahme, ggf. werden sie noch einen Antrag auf eine Sondersitzung des Landtags stellen. Und auch der Bundeskanzler verlangt nach Aufklรคrung in der Angelegenheit. Wie diese nun ausgeht, ist in diesem Moment noch offen.
Kehren wir zum Anfang zurรผck. In einer Zeit, in der in Schule bereits sehr viel fรผr die Aufklรคrung รผber die nationalsozialistische Herrschaft getan wurde, konnte dennoch ein solche unertrรคgliches Pamphlet entstehen. War also all das pรคdagogische Bemรผhen damals vergeblich? Vielleicht ist meine Grundannahme in der Sache auch falsch und nicht allen Schรผlern wurde in dem von mir erlebten Maรe vermittelt, dass Vergessen keine Option ist. Ich weiร es nicht. Ich weiร allerdings, dass man nicht mรผde werden darf รผber die dรผstere Periode der NS-Herrschaft zu sprechen.
Gerade heute, wo sich rechte Strรถmungen in der Politik unverhohlen zeigen und eine Partei, die diese Inhalte wie selbstverstรคndlich nach auรen vertritt, politisch erfolgreich ist. Was die Aufgabe der Demokratie und die Errichtung eines menschenverachtenden Systems, ein in seinen Handlungen entmenschlichendes Regime in der Lage ist an Unmenschlichem Realitรคt werden zu lassen, muss an jede folgende Generation weitergegeben werden. Denn es liegt in deren Hand, dafรผr Sorge zu tragen, dass es bei einem โNie wiederโ bleibt.


