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Wo Meinungen aufeinander treffen

Ein Punkt

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Autor und Sprecher

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Elisabeth Siefert
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Thorsten A. Siefert

Technik und Gestaltung

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Thorsten A. Siefert

Foto von George Becker

Mathematik in der Grundschule, weder das Fach noch das gleichnamige Lehrwerk fanden auch nur den Hauch meines Interesses. Final konfrontierte man mich mit der „Einfรผhrung in die Infinitesimal- rechnung“, das war das letzte Mathebuch, das ich besaรŸ. Seltsame Zeichen und Abbildungen enthielt es, manche davon habe ich farblich umgestaltet, so dass sie frรถhlicher wirkten. Schullebenslang hatte ich zu dem Fach, bei dem es um die Einhaltung und das strikte Befolgen von Regeln geht, wo alles korrekt und mit einer Probe zu รผberprรผfen ist, kein Verhรคltnis. Ach doch, die Rechenkรคsten mit den bunten Elementen fรผr Mengenlehre fand ich ganz ansprechend, damit konnte man so schรถne Muster legen. In der 12. Klasse wรคhlte ich das Fach schlieรŸlich ab, fรผr diese Mรถglichkeit mรถchte ich dem Land Niedersachsen noch heute danken. In Rechnungswesen sowie Betriebs- und Volkswirtschaftslehre verfolgten mich Zahlen, Formeln und Graphen bis zum Abitur. Das allerdings konnte ich herrlich ignorieren, es stand wenigstens nicht mehr die ungeliebte Fachbezeichung im Stundenplan.
In diesen Tagen in den Schlagzeilen, die nachtrรคgliche Anhebung des Ergebnisses der Abiturklausuren in Mathematik um einen Notenpunkt in Mecklenburg-Vorpommern. Und schon stรถhnt das Land auf. Stefan Dรผll, neuer Prรคsident des Lehrerverbands, sprach von einer Verzerrung der bundesweiten Vergleichbarkeit der Noten. Aus der Wirtschaft kamen ebenso kritische Stimmen. In der Anwendung der Mathematik im Handwerk mรผssten Ergebnisse von Berechnungen ja auf jeden Fall richtig sein.
Was hatte zur minimalen Anhebung der Note gefรผhrt? Die Abiturienten des aktuellen Jahrgangs, sie waren wรคhrend der Pandemie zeitweise im Fernunterricht gewesen. Zudem sei die Bearbeitungszeit in einer Nachbetrachtung durch Fachleute als nicht ausreichend eingestuft worden. Lahme Entschuldigungen?
Ich finde nicht. Zunรคchst ein Blick auf die zu geringe Bearbeitungszeit. Sie kann erhebliche Auswirkungen auf das Ergebnis einer Klausur haben. Vielleicht wรคhlt man einen falschen Ansatz und bemerkt es zu spรคt. Dann ist ein Neu-Berechnen schwierig. Oder man versteht den Aufgabentext nur mit Mรผhe, findet vor lauter Eile nicht die benรถtigten Werte zum Weiterarbeiten. Schรผler, die mit der Mathematik hadern, fรผr sie ist die fehlende Arbeitszeit eine Katastrophe. Und dann gibt es noch junge Menschen, die durch einen zu knappen Zeitansatz bedingt die Arbeit einfach hinschmeiรŸen. Gerne auch unter lautem Protest. Ich kenne jemanden. Es ist aus meiner Sicht also essenziell, gerade fรผr schwache Schรผler, dass bei der Konstruktion der Aufgaben genรผgend Zeit eingeplant wird, damit es nicht zur Verunsicherung oder gar Panik bei den Prรผflingen kommen kann.
Corona: Die Pandemie, sie ist doch lange vorbei. Und die Schรผler, sie hatten ausreichend Gelegenheit im fantastischen Fernunterricht und bei den deshalb schon fast รผberflรผssigen Aufholkursen ihr Wissen zu vertiefen und zu sichern. Ja, vielleicht. Aber vielleicht auch nicht. Es bestand auch die Mรถglichkeit, des Scheiterns. Wie das? Wenn die Anbindung ans Internet und die technische Ausstattung zuhause nicht ausreichten? Wenn eine Unterstรผtzung durch die Eltern in Ermangelung der benรถtigten Kenntnisse und fehlender Zeit nicht mรถglich war? Wenn die Bezahlung von Nachhilfe eine unรผberwindbare Finanzierungshรผrde darstellte? Und wenn die wundervolle pรคdagogische Haltung mancher Lehrer an den ohnehin eher konservativ ausgerichteten Gymnasien nicht รผber ein โ€žDas musst du selbst nacharbeiten!โ€œ hinaus ging. Sicher fรผr mich ist, dass ich unter diesen Umstรคnden nicht zum Abitur gelangt wรคre. In einem Land wie der Bundesrepublik, in der Bildungschancen nach wie vor davon abhรคngen, in welche Familie man geboren wird, hat die Pandemie sicher nicht zu mehr Bildungsgerechtigkeit gefรผhrt. Eher steht zu befรผrchten, dass Bildung als Eigentum in bestimmten Schichten der Gesellschaft gesichert wurde und wenn es nach diesen geht, dort besser exklusiv verbleiben soll.
Da war noch die Sache mit der Vergleichbarkeit. Als ich 1988 nach einem Um-Umweg das Abitur ablegte, war mir klar, dass es fรผr mich in Bremen einfacher und in Bayern geradezu unmรถglich gewesen wรคre, den gewรผnschten Bildungsabschluss zu erlangen. Heute setzt man mehr denn je auf Vereinheitlichung. Aber ein Notenpunkt? Handelt es sich bei dem in Mecklenburg-Vorpommern auf das Ergebnis der Mathematikklausuren aufaddierten Notenpunkt um eine ungeheure Ungerechtigkeit gegenรผber allen anderen Abiturienten des Jahrgangs 2023?
So ein Punkt, er kann viel รคndern, zum Beispiel einen Unterkurs in einen solchen verwandeln, der ins Abitur eingebracht werden kann. Hat das Land Mecklenburg-Vorpommern die MaรŸnahme nachvollziehbar begrรผndet? Fรผr mich lautet die Antwort ja. Was mich wirklich freut: Die Einsicht auf der Seite der Bildungsanbieter, dass man etwas hรคtte besser machen kรถnnen und das Herstellen eines Ausgleichs. So klingt fรผr mich Gerechtigkeit.