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Hoher Aufwand, kaum Ertrag: Nationale Grenzkontrollen gefährden Europas Zusammenhalt

Neben einem alten Grenzposten steht eine junge Frau auf einer offenen Straße und hält die europäische Fahne hoch.

Foto mit Unterstützung durch KI erstellt.

Autor und Sprecher

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Thorsten A. Siefert

Technik und Gestaltung

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Thorsten A. Siefert

(es gilt das gesprochene Wort)

Hallo und herzlich willkommen zu unserer heutigen Episode. Heute werfen wir einen Blick auf die aktuelle politische Lage.

Deutschland hat zuletzt wieder Grenzkontrollen an einigen Grenzen eingeführt, um die so genannte irreguläre Migration zu begrenzen. Diese Maßnahme ist höchst umstritten. Kritiker – und dazu zähle ich mich – argumentieren, dass solche Kontrollen wenig bringen, dafür aber viel Aufwand verursachen und vor allem der europäischen Idee von offenen Grenzen schaden. Statt nationaler Alleingänge bräuchte es dringend eine europäische Lösung. In dieser Episode möchte ich beleuchten, warum die aktuellen Grenzkontrollen mehr Probleme schaffen als lösen, welche juristischen Grenzen es gibt und warum nur europäischer Zusammenhalt weiterhilft.

Bereits die Wirksamkeit der verschärften Grenzkontrollen ist fragwürdig. Tausende Polizeikräfte müssen eingesetzt werden, um Reisende an ehemals offenen Schengen-Grenzen zu überprüfen – ein immenser personeller und logistischer Aufwand, wie die Tagesschau berichtete. Doch stehen die Ergebnisse in keinem guten Verhältnis dazu. So zeigen Medienberichte, dass der Beitrag der neuen Grenzkontrollen zur Verringerung irregulärer Migration bislang „überschaubar“ ist. In einigen Bereichen ist die Zahl der Asylgesuche trotz Kontrollen sogar gestiegen.

Der Grund: Wer an der Grenze aufgegriffen wird, kann direkt Asyl beantragen und darf vorerst nicht zurückgewiesen werden. Dadurch umgehen viele Schutzsuchende faktisch die Zurückweisung, indem sie noch an der Grenze einen Asylantrag stellen.

Andere weichen einfach auf ungesicherte Grenzabschnitte oder kleinere Straßen aus. Vollständig lückenlose Kontrollen sind in einem offenen Europa kaum durchzusetzen – und nur mit unverhältnismäßig hohem Aufwand zu erreichen.

Kurz gesagt: Die erhoffte Abschreckung bleibt weitgehend aus, während Ressourcen gebunden und der Grenzverkehr für Pendler und Wirtschaft erschwert wird.

Noch gravierender sind die politischen Folgen derartiger nationaler Alleingänge für den Zusammenhalt in der EU. Freizügigkeit und offene Binnengrenzen gehören zu den Grundpfeilern der Europäischen Union. Eigentlich sind Grenzkontrollen im Schengen-Raum nicht vorgesehen, außer in außergewöhnlichen Umständen und dann nur vorübergehend als letztes Mittel. Ich erinnere an die Grenzkontrollen während der Herren-Fußball-EM 2024, welche die Einreise von Hooligans verhindern sollten.

Wenn einzelne Länder im Alleingang dauerhafte Kontrollen einführen oder verschärfen, untergräbt das gegenseitiges Vertrauen. Ein Blick nach Polen zeigt, wie schnell so etwas zum Problem für Europa wird. Der STERN-Journalist Nico Fried argumentiert, dass die einseitige harte Grenzpolitik Deutschlands den polnischen Nationalkonservativen im Wahlkampf eine willkommene Angriffsfläche bot.

Tatsächlich gewann in Polen jüngst ein nationalistischer Kandidat die Präsidentschaft – knapp mit 51% – und Beobachter führen das auch auf die deutsche Grenzpolitik zurück.

So meinte die FAZ, die Zurückweisung von Migranten an der deutschen Grenze sei für Polens rechte Opposition eine „Steilvorlage“ gewesen, um gegen die pro-europäische Regierung von Donald Tusk zu agitieren. Bei solch knappen Mehrheiten kann dieser Effekt entscheidend gewesen sein.

Die Folgen: Das Verhältnis zwischen Berlin und Warschau kühlte merklich ab. Die polnische Regierung war verärgert – sie hatte ihre EU-Außengrenze streng kontrolliert und den Migrantenstrom Richtung Deutschland bereits deutlich reduziert.

Nun sahen sie sich durch Deutschlands Vorgehen brüskiert. Gleichzeitig staute sich im polnischen Grenzgebiet Unmut, weil Pendler im Stau der deutschen Kontrollen hängenblieben.

Nationalistische Kräfte schürten die Stimmung gezielt – in Görlitz riefen Demonstranten: „Zeigen wir den Deutschen, dass wir uns nicht auf der Nase herumtanzen lassen!“, wie der Stern berichtete. Aus Partnern wurden Kontrahenten. Schließlich drohte Premier Donald Tusk sogar, die polnische Grenze zu Deutschland ganz zu schließen, sollte Berlin an den Kontrollen festhalten. Er kündigte an, notfalls europäisches Recht auszusetzen. Man wolle die Notstands-Klausel des Artikel 72 AEUV ziehen, also exakt den Artikel auf den sich Deutschland beruft. „Glückwunsch, Kanzler, tolles Vorbild!“, kommentierte Fried sarkastisch und warnte: Die vielbeschworene europäische Idee stehe hier kurz vor ihrer eigenen Zerstörung. Anders gesagt: Was als Schutz nationaler Interessen gedacht war, wird plötzlich zur Gefahr für Europas Einheit. Auch innerhalb Deutschlands gab es früh warnende Stimmen. Selbst Bundeskanzler Olaf Scholz hielt es für einen schweren Fehler, die mühsam errungene europäische Einigung in der Migrationspolitik durch Alleingänge bei Grenzkontrollen zu gefährden. Diese Warnung erwies sich als voraussehend – das Beispiel Polen zeigt, wie sehr nationale Alleingänge letztlich der gesamten EU schaden können.

Neben politischen Kollateralschäden gibt es auch rechtliche Grenzen: Die deutsche Regierung kann nicht nach Belieben an den Binnengrenzen Migranten abweisen. Das hat kürzlich das Verwaltungsgericht Berlin klargestellt. In mehreren Eilverfahren entschied das Gericht, dass Personen, die bei einer Grenzkontrolle auf deutschem Gebiet Asyl beantragen, nicht ohne ein vollständiges Dublin-Verfahren zurückgewiesen werden dürfen.

Konkret bedeutet das: Sobald jemand an der Grenze um Schutz nachsucht, ist Deutschland verpflichtet, das in der EU geltende Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Asylstaats durchzuführen – den sogenannten Dublin-III-Prozess. Eine direkte Zurückschiebung etwa nach Polen, ohne dieses Verfahren, ist rechtswidrig.

Die Richter stellten unmissverständlich klar, dass die Bundesrepublik sich auch nicht auf einen Notlagen-Paragrafen berufen kann, um das Dublin-System zu umgehen.

Insbesondere taugt Artikel 72 AEUV – der Vorbehalt für die öffentliche Ordnung und Sicherheit – in diesem Fall nicht als Rechtfertigung. Es fehlt, so das Gericht, an einer ausreichend dargelegten Gefahr für die öffentliche Sicherheit, die solch drastische Maßnahmen legitimieren würde. Mit anderen Worten: Die pauschale Behauptung einer „Notlage“ an den Grenzen trägt juristisch nicht. Obwohl das Berliner Urteil im Eilverfahren erging, hat es Gewicht. Auch wenn formal nur über drei Einzelfälle entschieden wurde – drei somalische Geflüchtete, die aus Polen kommend an der Weiterreise gehindert wurden –, so dürften die Ausführungen zur Begründung allgemeingültig sein, wie die Legal Tribune Online feststellt.

Die Zurückweisung von Personen, die an der Grenze ein Asylgesuch äußern, verletzt die Garantie, dass in diesem Staat (wenigstens) ein Dublin-Verfahren durchgeführt werden muss. Die politische Signalwirkung dieser Entscheidung ist enorm. Selbst die Gewerkschaft der Polizei (GdP) hatte frühzeitig vor den rechtlichen Risiken gewarnt. Nun spricht die Opposition offen von einer Blamage für die Regierung: „Eine harte Niederlage… und eine Mahnung, sich künftig an Recht und Gesetz zu halten und nicht wissentlich die eigenen Kompetenzen für populistische Zwecke zu überschreiten“, erklärte etwa Grünen-Innenpolitikerin Irene Mihalic der Rheinischen Post.

Dieses juristische Stoppschild sollte der Politik zu denken geben. Ein „Weiter so“ bei den Zurückweisungen wäre verantwortungslos.

Grenzkontrollen allein lösen kein Migrationsproblem. Sie schaffen vielmehr neue Probleme – politisch, praktisch und rechtlich. Deutschlands einseitiges Vorgehen hat Nachbarländer verärgert, Populisten gestärkt und grundlegende EU-Prinzipien ins Wanken gebracht. Gleichzeitig haben Gerichte unmissverständlich klargemacht, dass solche Alleingänge enge Grenzen durch EU-Recht haben.

Die Schlussfolgerung kann nur lauten: Nationale Abschottung ist eine Sackgasse. Stattdessen muss Deutschland seine Energie und Ressourcen in europäische Lösungen investieren. Wir brauchen eine abgestimmte europäische Asyl- und Migrationspolitik, die gemeinsame Verantwortung verteilt, legale und geordnete Wege schafft und die Außengrenzen der EU wirksam, aber rechtstaatlich schützt. Das kostet Zeit und Geld – doch genau da sollte die Bundesregierung ansetzen, nicht bei symbolträchtigen Polizeieinsätzen an innereuropäischen Grenzen. Migration lässt sich nur gemeinsam nachhaltig steuern. Wenn alle EU-Staaten an einem Strang ziehen – sei es bei der Verteilung Schutzsuchender oder bei der Bekämpfung von Fluchtursachen –, dann werden nationale Pseudonotmaßnahmen überflüssig. So bleibt auch der europäische Zusammenhalt gewahrt, der bei gegenseitigem Vertrauen und offenen Grenzen schließlich alle in Europa stärkt.

Die aktuelle Entwicklung ist ein deutlicher Warnschuss. Politik und Gesellschaft sollten ihn ernst nehmen und begreifen, dass nur eine gemeinsame europäische Antwort die Herausforderungen der Migration wirklich löst – und dabei unsere offenen Grenzen und Werte bewahren wird.