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Wo Meinungen aufeinander treffen

Wüstenwahnsinn

ein monolitischer in der Wüste

Autor und Sprecher

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Thorsten A. Siefert

Technik und Gestaltung

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Thorsten A. Siefert

Episodenbild mit KI-Unterstützung

The Line – eine futuristische Stadtvision aus Saudi-Arabien, die gleichermaßen fasziniert und alarmiert. Im äußersten Nordwesten Saudi-Arabiens, an der Küste des Roten Meeres, soll mit „The Line“ eine Stadt der Superlative entstehen – ein 170 Kilometer langer, linearer Megabau aus zwei parallel verlaufenden Wolkenkratzer-Wänden. Die Pläne sehen eine Höhe von 500 Metern und eine Breite von etwa 200 Metern vor – das entspricht etwa dem Pariser Eiffelturm übereinandergestapelt in fünf Reihen. Innen Platz finden sollen bis zu 9 Millionen Einwohner auf nur 34 Quadratkilometern Grundfläche, vollständig autofrei und betrieben mit 100 % erneuerbarer Energie. Saudi-Arabiens De-facto-Herrscher Kronprinz Mohammed bin Salman kündigte das Projekt 2021 als Herzstück der Wirtschaftsinitiative Vision 2030 an.

The Line, gelegen im Wüstengebiet von NEOM (einer neuen High-Tech-Zone nahe der Grenze zu Jordanien und Ägypten), solle nichts weniger als die Lebensweise der Menschheit revolutionieren und „die Herausforderungen des urbanen Lebens lösen“

So zumindest das futuristische Versprechen. Doch je konkreter die Pläne wurden, desto deutlicher traten gewaltige Risiken, Kosten und Kritikpunkte zutage. Die Grundidee von The Line klingt wie Science-Fiction: Zwei gigantische spiegelverkleidete Gebäude bilden einen langen Korridor, in dem Wohnquartiere, Büros, Parks und Infrastruktur vertikal gestapelt sind. Keine Autos, keine Straßen, null Emissionen – stattdessen Hochgeschwindigkeitszüge und KI-gesteuerte Dienstleistungen, so das Konzept.

Alle wichtigen Einrichtungen sollen innerhalb von 5 Gehminuten erreichbar sein. Werbung und Präsentationen beschwören eine „kognitive Stadt“ und gar eine „Zivilisationsrevolution“.

Mit großem PR-Aufwand inszenierte der Kronprinz die Stadt als radikalen Gegenentwurf zur herkömmlichen Metropole. Phantastische Ideen schwirrten durch die Medien: Von fliegenden Taxis über Roboter-Butler bis hin zu einem künstlichen Mond versprach das NEOM-Projekt technologische Wunder.

The Line bildet dabei den spektakulärsten Baustein dieser Vision. Kritiker werfen allerdings ein, vieles davon klinge eher nach einem dystopischen Fantasy-Roman – und fragen, ob das Projekt überhaupt realistisch umsetzbar ist. Die geplanten Dimensionen und Kosten sprengen jedenfalls jeden Rahmen. Offiziell war zunächst von rund 500 Milliarden US-Dollar für NEOM die Rede, doch interne Schätzungen für The Line wurden zuletzt drastisch nach oben korrigiert: Von 1 Billion bis 1,5 Billionen US-Dollar Baukosten ist inzwischen die Rede

Schreibt theguardian.

Ein Bericht des Wall Street Journal ließ aufhorchen, der in die Zukunft hochrechnete: Demnach könnte die komplette Fertigstellung bis ins Jahr 2080 dauern und insgesamt bis zu 8,8 Billionen $ verschlingen – eine Summe etwa in Höhe von 25 Jahreshaushalten Saudi-Arabiens. Saudi-Arabien bestreitet solche Zahlen zwar und bezeichnet sie als falsch interpretiert. Doch unbestritten ist: Schon jetzt sind die Kosten enorm und der Zeitplan gerät ins Wanken. Allein für die erste Bauphase („Hidden Marina“) veranschlagen Insider rund 370 Mrd. $.

Angesichts dessen verwundert es nicht, dass Skeptiker das Projekt schon früh als gigantisches Mammutvorhaben mit ungewissem Ausgang einordnen. Umweltkritik und ökologische Risiken: Trotz aller Hochglanz-Beteuerungen, The Line werde nachhaltig und naturfreundlich, schlagen Umweltexperten Alarm. Die Planer rühmen sich zwar, 95 % des umliegenden Landes blieben unberührt und die Stadt laufe vollständig mit grünem Strom. Doch bereits der Bau der Mega-Struktur verschlingt gigantische Ressourcen und erzeugt enorme CO2-Emissionen, die im Widerspruch zum grünen Anspruch stehen. Unmengen an Beton und Stahl würden benötigt; die Herstellung dieser Baustoffe ist energieintensiv und treibt den Klimagasausstoß in die Höhe. Fachleute bezweifeln, dass das Projekt in einer Gesamtökobilanz positiv abschneiden kann. Klimawissenschaftler warnen zudem vor ungeahnten Effekten auf das lokale Wetter: Die schiere Größe und Form der Struktur könnte Luftströmungen verändern, Wolkenbildung beeinflussen und die ohnehin harschen Wüstenwinde weiter anfachen. Donald Wuebbles, ein Klima-Experte im Beraterteam des Projekts, erklärte 2025, diese möglichen Veränderungen – etwa veränderte Regenmuster und häufigere Sandstürme – seien noch kaum untersucht und stellten ein ernstzunehmendes Risiko dar.

Inzwischen soll NEOM zwar Studien zu diesen Fragen in Auftrag gegeben haben, doch Ergebnisse liegen öffentlich nicht vor. Auch Naturschützer äußern massive Bedenken. An der Vogelzugroute entlang des Roten Meeres könnte The Line zu einer tödlichen Barriere werden. Jeden Herbst ziehen Milliarden Zugvögel aus Europa in Richtung Afrika und passieren dabei das nördliche Rote Meer. Genau dort würde künftig eine 500 Meter hohe, spiegelnde Wand in den Himmel ragen. Biologen fürchten, dass die Vögel die verspiegelte Fassade nicht als Hindernis erkennen und zu Tausenden dagegen prallen könnten. Ohne gründliche Umweltverträglichkeitsprüfung – die bisher fehlt – drohe ein „massives Vogelsterben“, warnt ein von der University of Cambridge angeführtes Forscherteam. Eine solch große, lückenlose Struktur in einer Wildnisregion könne zudem Tierwanderungen unterbrechen und Lebensräume fragmentieren. Die Folge wären potenziell gravierende Störungen im Ökosystem weit über das Baugebiet hinaus.

All dies steht in direktem Konflikt mit dem Bild, das Saudi-Arabien von The Line als Vorzeige-Ökostadt zu zeichnen versucht. Menschenrechtliche Bedenken wiegen ebenfalls schwer – insbesondere was Zwangsumsiedlungen, Arbeitsbedingungen und den Umgang mit Kritikern betrifft. Das Gebiet, auf dem NEOM entstehen soll, ist seit Generationen die Heimat des Stammes der Huwaitat. Etwa 20.000 Angehörige dieser indigenen Gemeinschaft wurden bereits vor Jahren aufgefordert, ihre Dörfer für das Projekt zu räumen.

Viele von ihnen wehren sich dagegen, ihre angestammte Heimat aufzugeben. „Für den Huwaitat-Stamm wird NEOM auf unserem Blut und unseren Knochen gebaut“, klagt die Huwaitat-Aktivistin Alia al-Huwaiti, die im Exil lebt.

Saudi-Arabien demonstriert damit, dass Kritik an dem Prestigeprojekt – ob vor Ort oder im Internet – nicht toleriert wird. Auch die Arbeitsbedingungen auf den Baustellen von The Line geraten in die Kritik. Tausende Gastarbeiter aus Ländern wie Pakistan, Indien oder afrikanischen Staaten schuften derzeit in der abgelegenen Wüstenregion an den ersten Bauabschnitten. Eine Investigativ-Reportage 2024 enthüllte extreme Missstände: 16-Stunden-Schichten, 14 Tage am Stück ohne freien Tag, sind demnach keine Seltenheit.

Viele Arbeiter müssen zudem täglich drei Stunden in unbezahlten Busfahrten zum abgelegenen Bauort und zurück pendeln, was ihnen oft nur vier Stunden Schlaf pro Nacht lässt. „Man lässt uns extrem hart arbeiten. Wir bekommen kaum Ruhe… Diese Übermüdung hat viele Unfälle verursacht – allein letzten Monat gab es vier oder fünf Fälle“, berichtete ein verzweifelter Bauarbeiter in einem heimlich gefilmten Interview. Ein anderer beschreibt permanente Angst und Erschöpfung und fühlt sich von den saudischen Vorgesetzten „wie ein Bettler“ behandelt.

Arbeitsrechtler weisen darauf hin, dass solche Zustände weit jenseits internationaler Arbeitsschutz-Standards liegen. Offiziell betont NEOM, man habe einen Verhaltenskodex nach ILO-Richtlinien und kontrolliere die Einhaltung durch die Baufirmen regelmäßig.

Doch Menschenrechtsgruppen zweifeln an der Umsetzung. Human Rights Watch dokumentierte 2023/24 weit verbreitete Lohnbetrug, Überstundenzwang und Gefahr durch Hitze auf saudischen Großbaustellen. Fälle wie der Tod eines 25-jährigen pakistanischen NEOM-Bauingenieurs im Dezember 2023 (er stürzte bei einem ungesicherten Gerüst, die Firma verweigerte seiner Familie zunächst jede Entschädigung) unterstreichen die Sorge, dass Arbeiterrechte zugunsten des Mega-Projekts geopfert werden.

Projektstand Mitte 2025: Trotz aller Probleme treibt Saudi-Arabien den Bau von The Line voran – allerdings langsamer und bescheidener als angekündigt. Aus Satellitenbildern und Berichten geht hervor, dass derzeit erst einige Kilometer der gigantischen Fundamente in Arbeit sind. Ursprünglich sollte bis 2030 bereits ein 5 Kilometer langer Abschnitt der Stadt in Betrieb gehen, und bis dahin rund 1,5 Millionen Menschen dort wohnen. Inoffiziell wurden diese Ziele jedoch korrigiert: Laut internen Dokumenten werde man bis 2030 wohl nur etwa 2,4 Kilometer der Strecke realisieren können und höchstens 300.000 Einwohner ansiedeln. Saudi-Arabiens Führung dementiert öffentlich jede Reduktion der Pläne – doch selbst ein führender NEOM-Berater bestätigte Verzögerungen von mindestens 6 bis 12 Monaten im Bauablauf. Mitte 2024 berichtete der Guardian, dass bereits mindestens ein großer Auftragnehmer entlassen wurde und Arbeiter wieder nach Hause geschickt hat. Finanzierungsfragen spielen offenbar ebenfalls eine Rolle: Ende 2023 war das Budget von NEOM ins Stocken geraten, der staatliche Public Investment Fund hatte noch kein Budget für 2024 freigegeben – ein Zeichen, dass die Kassen selbst in dem ölreichen Königreich nicht grenzenlos sind. Um die erste Teilstrecke rechtzeitig vor der Fußball-WM 2034 in Saudi-Arabien fertigzustellen (geplant ist ein hochmodernes Stadion auf dem Dach von The Line), dürften weitere Milliarden nötig werden. Insgesamt sollen schon über 50 Mrd. $ in NEOM investiert worden sein, ohne dass bislang ein einziger Einwohner dort lebt. Angesichts all dieser Herausforderungen stellt sich die Frage, ob The Line je wie erträumt Wirklichkeit wird. Insider und Beobachter, die einst an dem Projekt mitarbeiteten, berichten von ständig wechselnden Vorgaben, explodierenden Ausgaben und nennen The Line inzwischen „völlig losgelöst von der Realität“.

Fest steht: Mohammed bin Salman hat enormes politisches Kapital in dieses Prestigevorhaben gesteckt. The Line ist zugleich Zukunftsvision und Zankapfel – ein urbanistisches Experiment von historischem Ausmaß, das entweder als revolutionärer Durchbruch in die Stadtplanung eingeht oder als teures Fiasko in den Weiten der saudischen Wüste enden wird. Doch schon jetzt beleuchtet das Projekt mit klarem Schlaglicht die Konflikte, die entstehen, wenn gigantische Zukunftsträume auf die Realität von Ökologie und Menschenrechten treffen.