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(Es gilt das gesprochene Wort)
Hallo und herzlich willkommen zu einer neuen Folge unseres Podcasts „todays day“. Heute widmen wir uns einem Thema, das auf den ersten Blick trocken erscheint, aber enorme Auswirkungen auf unsere Geldbeutel und die soziale Gerechtigkeit in Deutschland hat: den sogenannten versicherungsfremden Leistungen in der Sozialversicherung.
In der Diskussion um die Rentenversicherung fällt oft der Begriff „versicherungsfremde Leistungen“. Damit sind Leistungen gemeint, die nicht durch die eigenen Beiträge der Versicherten gedeckt sind, sondern auf politischen Entscheidungen beruhen
Vereinfacht: Die Rentenkasse übernimmt dabei Aufgaben im Interesse der gesamten Gesellschaft – zum Beispiel Gutschriften für Kindererziehungszeiten, Zeiten in Ausbildung oder Studium sowie Leistungen bei Mutterschutz. Diese Maßnahmen sind gesellschaftlich sinnvoll und gewollt, doch ihre Kosten stehen in keinem direkten Zusammenhang mit den eingezahlten Rentenbeiträgen. Idealerweise würden solche gesamtgesellschaftlichen Aufgaben aus Steuermitteln bezahlt, also von der Allgemeinheit getragen
In der Praxis hat sich in Deutschland jedoch über Jahrzehnte eine andere Tradition eingeschlichen: Der Staat lagert einen Teil dieser Kosten in das System der Sozialversicherungen aus, statt sie vollständig über den Bundeshaushalt zu finanzieren
Gemeinhin wird dann vom „Verschiebebahnhof“ gesprochen. Kosten werden vom Steuerhaushalt auf die Beitragszahlenden verschoben.
Die Kosten und ihre Folgen
Aber wie hoch ist denn der Umfang der „versicherungsfremden“ bzw. „nicht-beitragsgedeckten“ Leistungen der Sozialversicherung? Darüber wird, so Prof. Stefan Sell (Direktor für Sozialpolitik und Arbeitsmarktforschung der Hochschule Koblenz), seit Anbeginn der sozialpolitischen Zeiten überaus heftig gestritten.
Der Sozialverband VdK hat gemeinsam mit der NGO FiscalFuture – einer Organisation, die junge Menschen in Finanz- und Wirtschaftspolitik einbindet und sich für eine nachhaltige Fiskalpolitik starkmacht – diesen Umfang berechnet.
Das Ergebnis: Rund 108,2 Milliarden Euro pro Jahr zahlt allein die gesetzliche Rentenkasse für solche versicherungsfremden Zwecke.
Dem gegenüber steht ein Bundeszuschuss – also eine staatliche Beteiligung – von nur 84,3 Milliarden Euro jährlich.
Die Differenz, knapp 24 Milliarden Euro pro Jahr, muss aus den Beiträgen der Versicherten selbst gedeckt werden.
Anders ausgedrückt: Ohne diese Zweckentfremdung könnten die Rentenbeiträge deutlich niedriger sein. Laut VdK zahlen die Beschäftigten durch diese Finanzierungstricks etwa 1,5 Beitragssatzpunkte mehr, als eigentlich nötig wäre
Dass diese Zahlen nicht abstrakt bleiben, zeigt ein Blick auf den individuellen Effekt: Verdient jemand ca. 3.500 Euro brutto im Monat, fließen derzeit etwa 73,50 Euro monatlich aus seinem Gehalt in solche gesamtgesellschaftlichen Aufgaben – zusätzlich zum eigentlichen Rentenbeitrag.
Der Arbeitgeber zahlt nochmals den gleichen Betrag obendrauf. Zusammen sind das rd. 147 Euro pro Monat, die beide Seiten für fachfremde Aufgaben aufbringen. Würde der Bund diese Kosten übernehmen, entfiele dieser versteckte Aufschlag. Für die einzelne beschäftigte Person blieben jährlich ca. 882 Euro mehr Netto übrig, und auch die Arbeitgeberseite hätte die gleiche Summe weniger an Lohnnebenkosten
Die Entlastung käme also sozialversicherungspflichtig Beschäftigten und Unternehmen gleichermaßen zugute.
Ungleiche Verteilung: Wer zahlt (nicht) in die Rentenkasse?
Die aktuelle Finanzierungspraxis versicherungsfremder Leistungen wirft ein Gerechtigkeitsproblem auf. Wer trägt die Hauptlast? Es sind vor allem sozialversicherungspflichtig Beschäftigte – also Arbeitnehmer und ihre Arbeitgeber. Andere Gruppen profitieren jedoch ebenfalls von den Leistungen, zahlen aber nicht in die Rentenkasse ein.
Häufig wird dabei auf Politiker und Beamte verwiesen. Das ist nicht völlig falsch – aber es braucht eine genauere Einordnung:
Beamte – etwa Polizisten oder Richter – gehören historisch nicht zur gesetzlichen Rentenversicherung, weil sie bereits vor der Einführung der Rentenversicherung im 19. Jahrhundert über eigene Versorgungssysteme abgesichert waren. Der Beamtenstatus bringt Rechte und Pflichten mit sich – darunter auch das Alimentationsprinzip, das eine lebenslange Absicherung durch den Staat garantiert. Dieses System wurde bewusst nicht in die Bismarck’sche Sozialversicherung integriert.
Politiker, also Abgeordnete und Regierungsmitglieder, haben ebenfalls eigenständige Altersvorsorgeregelungen. Diese beruhen auf ihrer besonderen Funktion als Gewählte und folgen oft beamtenähnlichen Regelungen – auch wenn sie nicht zwangsläufig verbeamtet sind. Die Altersversorgung wird hier vollständig aus Steuermitteln finanziert.
Diese historischen Sonderwege sind – ob man sie für zeitgemäß hält oder nicht – systemisch begründet und politisch bewusst etabliert worden.
Anders verhält es sich bei bestimmten Selbstständigen und freien Berufen, insbesondere den sogenannten Kammerberufen:
Ärzte, Architekten, Rechtsanwälte, Steuerberater und ähnliche Berufsgruppen sind in berufsständischen Versorgungswerken organisiert. Diese wurden in der Nachkriegszeit eingeführt – oft mit dem Argument, dass diese Gruppen bereits funktionierende Altersvorsorgen aufgebaut hätten und ihre soziale Absicherung in Eigenregie sicherstellen könnten.
Diese Gruppen Selbständiger sind nicht an die strengen Pflichten eines Beamten gebunden – zum Beispiel daran, jederzeit an einen anderen Dienstort versetzt zu werden oder einen Umzug auf Anordnung hin durchzuführen. Ihre Altersversorgung basiert auf eigenen Systemen, häufig mit deutlich höheren Rücklagen pro Mitglied – und ohne Umverteilungsmechanismen wie in der gesetzlichen Rentenversicherung.
Wenn nun gesamtgesellschaftliche Aufgaben über Rentenbeiträge finanziert werden, trägt diese Last im Wesentlichen die Gruppe der Beitragszahlenden in der gesetzlichen Versicherung – also die Arbeitnehmer in sozialversicherungspflichtigen Jobs. Besserverdienende Gruppen mit eigenen Systemen beteiligen sich daran höchstens über ihre Steuern, nicht aber über Rentenbeiträge
Der VdK spricht hier zurecht von einer strukturell unausgewogenen Umverteilung und sozialer Ungerechtigkeit.
Denn während die Sozialkassen vor allem aus Lohnbeiträgen gespeist werden, stammen Steuermittel aus einer breiteren Basis – also auch von Beamten, Politikerinnen, Selbständigen, Unternehmen und allen, die z.B. Mehrwertsteuer zahlen.
Wer sich an den Sozialversicherungsbeiträgen bedient, belastet somit eine vergleichsweise einkommensschwächere Gruppe stärker.
Fazit: Gesamtgesellschaftliche Verantwortung wahrnehmen
Die Analyse des VdK macht deutlich, dass die Finanzierung gesamtgesellschaftlicher Aufgaben über die Rentenkasse eine Schieflage erzeugt. Diese verdeckte Querfinanzierung ist weder transparent noch gerecht. Statt weiterhin bei jeder Finanzlücke reflexartig die Beitragsschraube anzuziehen oder Rentenleistungen in Frage zu stellen, braucht es einen ehrlichen politischen Kurswechsel. Aufgaben, die alle etwas angehen, müssen auch von allen finanziert werden – sprich aus dem Steuertopf, nicht allein aus Beiträgen.
Konkret hieße das: Der Bund und die Länder müssten mehr Mittel für diese Aufgaben bereitstellen, anstatt sie der Rentenkasse aufzubürden. Das ist machbar – etwa durch eine gerechtere Steuerpolitik. Vorschläge liegen auf dem Tisch: Eine gerechtere Ausgestaltung von Erbschafts- und Vermögenssteuern oder konsequenteres Vorgehen gegen Steuervermeidung könnten dem Staat erhebliche Mehreinnahmen bringen.
Schätzungen zufolge ließen sich so bis zu 100 Milliarden Euro zusätzlich pro Jahr mobilisieren
– genug, um sämtliche versicherungsfremden Leistungen aus Steuern zu finanzieren und die Sozialbeiträge zu stabilisieren. Unterm Strich läuft es auf ein einfaches Prinzip hinaus, das VdK-Präsidentin Verena Bentele treffend formuliert hat: „Politische Maßnahmen, die die gesamte Gesellschaft betreffen, müssen auch von der gesamten Gesellschaft finanziert werden.“
In diesem Sinne wäre es nur folgerichtig, die Rentenkasse von fremden Lasten zu befreien – damit ein guter Sozialstaat finanzierbar bleibt und die Kosten fair verteilt werden. Aber, um Prof. Sell zu zitieren; „Spätestens da geht dann sicher der Blutdruck von vielen Akteueren richtig hoch“.